Blitzlicht auf Bosnien-Herzegowina

16.09.2021

Ella* hatte sich für Bosnien-Herzegowina entschieden. Mein Job war Planung, Buchung und Begleitung. So flogen wir wegen Corona um ein Jahr verschoben endlich nach Sarajevo. Die Pläne hatte ich auf Ella - Ü70, im Herzen kernig, gehandicapt durch einen weit zurückliegenden Unfall - abgestimmt, nicht ohne einige Ambitionen, sie begeistern zu können. - Nach ein paar Tagen des Ankommens im Land und des aneinander Gewöhnens verließen wir die Stadt mit einem kleinen Dacia in Richtung eines hoch liegenden Bergsees, der nur über eine 16 KM lange Schotterpiste zu erreichen ist. - Asphalt war m.E. immer schon der größte Spielverderber.

*Name geändert

Auf der Fahrt machen wir einen Kaffeestopp in einer verrauchten Bar - Handwerker, vielleicht auch einfach Männer, die nicht mehr wissen, wofür sie sich einsetzen können, sitzen bei Bier und Wein am hellichten Tag im Dämmrigen, die Wirtin - viel ist nicht zu tun - setzt sich auf einen abseitigen Barhocker und singt verträumt ein bosnisches Lied aus dem Radio mit, den Blick in die Ferne oder in sich selbst hinein gerichtet.

Seit gestern regnet es. Bei Ankunft ist der See komplett in den Wolken ertrunken - aus unserer kaminfeuerwarmen Hütte heraus sehen wir dennoch in die Richtung, in der wir ihn wissen. Die Nachbarin zwei winzige Holzhäuschen weiter backt uns eine riesige Kartoffelpita - sie reicht für zwei Abende - warm, schwer und erdig frisch. - Noch im Morgengrauen sehe ich vom Bett aus durch das Dachfenster das Wasser vor dem mit Nebelschwaden gefüllten, jäh abfallenden Hang am Horizont - ein Zauber. - Von unten höre ich Ella vor'm Fenster stehend überwältigt, fast ungläubig, wie aus Versehen leise ausrufen "Ja! - Jaaa! - Jaah!" Und langsam erscheint die Sonne in Zeitlupe über den gegenüberliegenden Bergkamm kriechend. - Im Laufe des Tages ersteigen wir einen Hügel über dem Dorf, legen uns ins gewärmte Gras mit Blick in den Himmel - als ob er nie verhangen gewesen wäre. - Erst abends höre ich ins Blaudunkel lauschend zum ersten Mal den einsamen Ruf des Muezzin aus dem winzigen Holzminarett, versteckt zwischen den Hütten. Ein Moment eines kleinen Verrückt-werdens vor Demut und Andacht.

Mostar - eine verwundete Stadt - traumatisiert - sugar & war. Nahtlos gehen saniertes Welt- kulturerbe über in Gebäudeskelette mit toten Fenstern - nachts wummern die Bässe durch die Nacht, überschneiden sich gegenläufig, lauter, immer lauter, trinkt! tanzt! zerreißt die Stille! - Am nächsten Tag sehen wir uns einen wackeligen Clip über die Zerstörung und den Wiederaufbau der Stari Most an - draußen bricht ein Gewitter-regen los - wir verweilen auf eiligst bereit-gelegten Teppichen im trockenen Steineingang des Ladens beim Chef, dem Filmer, der mit ge-röteten Augen an der Nargile hängt. Er, der als 10-jähriger hatte im Keller bleiben sollen - oh bitte, Allah! dass ihm nichts passiere - nahm sich eine Kalaschnikow, sein Volk zu verteidigen, sein systematisch abgeschlachtetes Volk, "wir haben nichts getan!" - Dünne Tränenbäche rinnen in geraden Linien über seine Wangen bis zum Kinn, wo sich die Tropfen verfangen - sein Blick hält unseren stillen Gesichtern stand - er redet weiter bis zur Erschöpfung, so kommt es uns vor ... Auch der Regen verebbt langsam.

© 2022 Ulla Heilmeier, Göttingen
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